Mittelalterliche Architektur in Livland

Mittelalterliche Architektur in Livland


Was ist Livland?

Das historische Livland umfasste die Territorien der heutigen Staaten Estland und Lettland. Zwischen dem 13. und der Mitte des 16. Jahrhunderts existierte dort eine in Europa einmalige Gemeinschaft christlicher Kreuzfahrerstaaten. Die Eroberung, Christianisierung und Feudalisierung des Landes erfolgte seit den 1180er Jahren durch christliche Kreuzfahrer norddeutscher und dänischer Herkunft. Dabei entstand eine Gruppe geistlicher Herrschaften, deren größte der livländische Zweig des Deutschen Ordens war (bis 1237 Schwertbrüderorden). Daneben gab es vier Territorien der livländischen Bischöfe, mit dem Erzbischof von Riga als mächtigstem Vertreter dieser Gruppe an der Spitze (neben den Gebieten der Bistümer Kurland, Dorpat/Tartu und Ösel-Wiek). Eine Sonderrolle spielte Riga als größte Stadt des Landes, die zeitweise einen relativ eigenständigen Stadtstaat bildete, später jedoch unter die Abhängigkeit des Deutschen Ordens geriet. Fast alle Machtpositionen im Land wurden von deutschen Rittern, Adligen, Geistlichen oder Bürgern eingenommen, die auch die Auftraggeber der Wehr- und Sakralbauten waren.

Der Norden Livlands war 1219 von Dänemark erobert worden, die siegreiche Schlacht von Lyndanisse, die laut Legende durch die göttliche Verleihung der Danebrog-Flagge an das dänische Heer entschieden wurde, ist ein zentraler Bestandteil des dänischen Nationalmythos. Die dänische Herrschaft wurde bis 1346 aufrechterhalten und endete (infolge eines 1343 ausgebrochenen Aufstands der Esten) mit dem Verkauf des Landes an den Deutschen Orden. Die Landbevölkerung – und damit die große Mehrheit der Einwohner Livlands – bestand aus den einheimischen Esten, Letten, Liven, Kuren und Semgallen, deren Rechtsstellung stark eingeschränkt war.

Die Gemeinschaft livländischer Herrschaften endete infolge eines 1558 ausgebrochenen Kriegs mit Russland. Durch Beschlüsse der der Landesherren und Stände fielen 1561 die nördlichen Landesteile an Schweden und die südlichen Regionen an Polen. Im europäischen Kontext gesehen bildete Livland eine Grenzzone zum orthodoxen Russland. Hier stießen das westliche und östliche Christentum aneinander, eine Systemgrenze, die – als Außengrenze der Europäischen Union – bis heute fortbesteht. In der Architektur wird diese Grenzsituation symbolisiert durch das Drohgebilde der zwei sich unmittelbar gegenüber stehenden Burgen in Narva und Iwangorod, ein noch immer eindrucksvolles Bild.

Abb. 1 „Livland im Mittelalter“: Ronald Preuss, 2009, Wikimedia, CC BY-SA 2.5

Die mittelalterliche Architektur in Livland

In der Zeit der Existenz der Gemeinschaft livländischer Herrschaften entstand in dieser Region eine bemerkenswerte und vielschichtige Architekturlandschaft, in der sich Besonderheiten einer östlichen Grenzregion des abendländischen Christentums widerspiegeln. Im Mittelalter errichtete man Burgen, Kirchen sowie Klein- und Großstädte, deren Modelle und Vorbilder zunächst aus verschiedenen, meist deutschen Regionen importiert wurden. Es zeigen sich insbesondere Beziehungen zu Westfalen, Sachsen, Lübeck/Mecklenburg und dem Ordensland Preußen. Im 14. und 15. Jahrhundert wissen wir von mehreren Baumeistern anderer Hansestädte im Ostseeraum (etwa Rostock), die in Livland tätig waren. Dies ist ein Hinweis auf die große Bedeutung der Hanse bei den Transfervorgängen im Bereich der Architektur. Eine bedeutende Vermittlerrolle beim Formen- und Techniktransfer im 13. Jahrhundert kam auch der Ostseeinsel Gotland zu. Im Laufe der Zeit entwickelten sich landestypische Bautraditionen, die der Architektur Livlands einen spezifischen Charakter verliehen.

Aufgrund der ‚Schwertmission‘ und der unmittelbaren Grenzlage zu den russischen und litauischen Herrschaftsgebieten spielte die Wehrarchitektur eine ausgesprochen wichtige Rolle, da kriegerische Auseinandersetzungen an der Tagesordnung waren. Das ganze Land wurde mit einem Netz von Burgen unterschiedlicher Funktion überzogen (Residenz-, Amts-, Versorgungs- oder Grenzburgen), von denen ein Teil eng mit dem klosterartigen Typus der preußischen Konventsburgen des Deutschen Ordens verwandt war.

Eine herausragende Bedeutung für den frühen Kirchenbau des Landes besaß der spätromanische Dom von Riga, der erste monumentale Backsteinbau im Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Hinzu kamen die anderen livländischen Dome sowie einige ansehnliche Stadtkirchen (hauptsächlich in Reval, Riga, Dorpat) und Klöster. Neben der städtischen Großarchitektur entstanden im ländlichen Bereich zahlreiche Pfarrkirchen, deren Architektur häufig sehr einfach gestaltet war. Es finden sich aber auch bemerkenswert qualitätsvolle Sakralbauten mit reicher Bauskulptur, etwa auf der Insel Ösel/Saaremaa. In Bezug auf die Baumaterialien zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. Neben den Gebieten mit überwiegend Backsteinarchitektur gibt es auch Gegenden, in denen (abhängig von den örtlichen Natursteinvorkommen) der Werksteinbau dominierte.